Auf unserer Lebensbahn

Getragen von glänzenden Flügeln,
wie leicht das Schweben ist,
such ich nach einem ruhigen Ort,
und überfliege Straßen, Plätze, Nachtquartiere,
bin unsichtbar für jeden fremden Blick,
und höre die Gedanken unserer Zeit,
im Wirbelwind aus Zweifel, Neid und Übermut, und Liebe,
und die Gespräche aus geheimen Kammern,
wo man sich über dunkle Machenschaften unterhält.
Wie schnell ein solches Fliegen uns ermüden kann.

Der Flug begann so früh, und ich war so allein.
Ich weiß nicht, wann das Fliegen enden will.
So viele Gesten und auch Worte dringen auf mich ein.
Die Stadt ist lange schon in ihrem Bild allein.
Auf einem Hügel zeigt sich das ersehnte Ziel.

Ich schüttle meine weißen Flügel ab,
und halte in der Hand ein Buch.
Was es mir sagt, verrät es nicht.
Die Traumwelt der Gedanken spricht es an -
und was uns widerfahren kann auf unserer Lebensbahn:
Aus Zweifel, Liebe, Neid und Übermut.

 

 

Aus: Eine Nation ist kein Garten Eden

Leser's Wiederholungswunsch

Musentrip durchs Internet

Aus einer komischen Laune heraus
verschwand die Muse im Internet -
mein bestes Stück!
Ich stand nackt vor dem Bildschirm
und wartete gespannt auf ein Ergebnis
meines anderen Ichs.
Ich will dir was gestehn, erzählte sie bei
ihrer Wiederkehr, ich habe nichts gesehn,
nichts gehört, nichts gesagt. Der Dialog mit
dir macht mir doch größeren Spaß.
Ich war verwirrt, und auch in Maßen stolz.
Es war doch ehrenvoll, im Mittelpunkt des
eigenen Ichs zu stehen, und eigentlich nur
auf sich selbst zu sehen. Wird man das auch im
Internet verstehn?

Hanswurste aus der Reichskanzlei. 1939.

Was waren das für Menschen, denen unsere Leute
im ersten Jahr des Krieges immer noch vertrauten,
die meine frühen Kindertage in Schutt und Asche
legten, aus deren Alltagsmasken der Irrsinn von
Gedanken blickte, die schon zu ihrer Zeit ein
Greuel waren für jene Zeitgenossen, die nicht
verstehen konnten, daß eine Staatsmacht in die
Hände von Verbrechern fiel?

Und diese Mörderbande steckte unsere Welt in Brand!

Nur ihre Bilder haben überlebt, die häßlichsten Gesichter
ihrer Zeit; und sie verraten uns, was hinter diesen ausdruckslosen
Fratzen steckte: Man faßt es nicht! Verräterisch die
Mimik, die Kleidung und ihr dümmliches Gebaren.
Und wenn sie sprachen, glaubte man, daß ein Hanswurst
aus einer Reichskanzlei des Kasperle-Theaters das Wort
ergreift, es grausam schüttelt und mit Füßen tritt.

Und heute denken wir, es wäre alles schon vorbei
und überwunden, was im Namen unserer Väter einst geschah.

Was waren das für Menschen, denen ich mit Haß begegne, was
mich betrübt und bitter werden läßt? Ich hasse keine Menschen!
Es waren ihre Taten, deren Unvernunft und beispiellose
Niedertracht, die den Haß erregten. Und das hält lange an. Aus
gutem Grund. Man darf ein solches Unrecht nicht vergessen.

Aus: Eine Nation ist kein Garten Eden

Der Flügel eines Engels

So wie es immer war, wenn wir uns trafen…
lag sie in meinen Armen.
Das bunte Pferd, das an der Lampe hing,
sah uns beim Küssen zu – baumelnd hin und her.

Woher die schönen Farben kamen, im runden
Teppich, im Segel an der Wand, nicht weit vom
weichen Polster ihres Bettes, auf dem ihr Kleid lag,
der Flügel eines Engels, und ihr Slip.
So wie es immer war, wenn wir uns trafen…
umarmten wir uns auf den Knien, feingliedrig
waren ihre Arme, und die Haut verströmte eine
ungeahnte Süße. Wir liebten beide dieses Paradies.

Von solchen zarten Lippen… ergossen sich die
Küsse wie ein Trank auf meinen Mund, der
eins geworden war mit ihren Lippen, die zitternd,
ängstlich noch vibrierten, und dann, im Auf und Ab der
Lust, nach der Erfüllung suchten, was uns nie gelang.

So wie es immer war, wenn wir uns trafen…
lag sie in meinen Armen mit traumverlorenem Blick,
der soviel weiter sah, wovon ich nichts erahnte. Es war
nicht ihre Zeit, sie sehnte sich nach einer anderen zurück…,
so wie es immer war, wenn wir uns trafen.

Aus: LENA und das Paradies


 

Auf unserem Sonnenschiff

Als ich im Herbst der Bäume bunte Pracht
regnendes Fallen still die Erde füllen sah,
war ich bei dir und dachte an die Zeit,
als wir auf unserem Sonnenschiff die Meere
unserer Liebe Tag für Tag durchkreuzten
und in mancher schönen Bucht den Anker warfen.
Du erinnerst dich?
Ich bin so gern in dir versunken, das hat
uns beiden gut getan.
Und manchmal bin ich in dem Meer ertrunken,
das unsere Liebe war.
Was ist geschehen! Wer hat uns getrennt?
Ich weiß es nicht. Es kam so schnell. Und schuld
daran war nur ein nichtiger Moment.
Du sagtest, dieses Meer sei viel zu groß für uns.
Und ich vergaß die schöne frühe Zeit.
Der Streifzug durch das Land, der Flirt mit einer
Dame Unbekannt gab uns beiden Rätsel auf.
Was unsere Sprache nicht verändern kann, verändert
das Gefühl.
Wir schwiegen - viel zu lange.
Dieses Schweigen halten Menschen selten aus.
Laß uns zusammen reden.
Allein sind wir so schwach.
Ich will in deinen Träumen weilen.
Ich bin so gern in dir zuhaus.
Wir sind nur wir.
Und fällt am Ende auch die Welt entzwei,
mit dir entfliehe ich dem größten Untergang.
Das Sonnenschiff liegt in der Bucht vor Anker.
Die Segel stehen stolz im Wind.
Vor uns liegt eine lange, schöne Reise.
Komm mit, wir brechen auf!
Ein neuer Anfang sagt der Welt, daß wir noch
nicht verloren sind.

Aus: Streifzug durch die Zeit

Ein Gespräch über Möbel, das Feuilleton
und über Hugo von Hoffmannsthal


In den Pausen des Gespräches
über Möbel, Lampen, Teppichböden
ein erstauntes Auge auf ein Poem
aus dem Nachlaß von H.H. geworfen.

Zwischen einer ergriffenen Gestalt,
am Bezirk des Tempels, gab es
starre, befremdliche Gefilde,
dazwischen drängt tiefathment einsam
sich ein Mensch, ein Wunsch
in den schicksalvollen Aether.

In diesem Brei vergessener Methaphern
verlor das Auge sich.

Erst später, nach langen Reden über Teakholzkanten,
Rabatten und Designerböden, befreite sich das Auge,
fiel erlöst in unsere Gegenwart zurück.

Ich liebe die Alten, wenn sie mit goldenen
Zungen reden. Ansonsten: Grabt nicht nach
Worten, die lange schon vom Rost der Zeit
zerfressen sind.

Aus: LENA und das Paradies

P.S.: Das Poem entstand in den 1980er Jahren,
als der Autor Gregori Latsch in Frankfurt am Main
Einrichter von Praxen und Büros war.

Interview

Wie gewinnen Sie die Einfälle für Ihre Gedichte?
Meine Gedichte existieren
als unentdeckte Inseln
im Pazifik der Leidenschaften.
Ich hab sie nur zu entdecken und
auf der Karte einzutragen.

Was braucht man, um solch eine Insel zu entdecken?

Ein sturmfestes Boot
der Dreistigkeit,
einen biegsamen Mastbaum
des dichterischen Gedankens,
volle Segel
selbständigen Alltagswahrnehmens,
Proviant- und Wasservorrat
an Lebenseindrücken,
den erprobten Kompaß
der Überzeugungen,
ein starkes Fernglas des Zukunftsfühlens
und ein bißchen Glück!

Wie kommt es, daß der Leser Mitentdecker ist?

Das macht
die Hochseefahrkarte.
Nur Andeutungszeichen,
nur das Versprechen
von mancherlei Entdeckungsfreuden
stehn drauf.
Je vieldeutiger diese Zeichen,
desto mehr Anwärter mit Anspruch
auf den einzig richtigen Kurs!
Bemerkenswert ist,
daß alle Recht haben
und jeder am Ende lautstark hervorstößt:

Terra incognita!

AUTOR: ARNO PRACHT

Aus: Cimarron '78

Shopping-Time

Der Weg durch die Stadt -
ein Spießrutenlauf für unsere Gedanken.
Nichts berührt die Steine mehr wie
der bewundernde Blick unserer Augen
auf die glänzenden Fassaden der Häuser.
In schwindelnder Höhe wohnt das Glück.

Auf den kargen, zugemauerten Plätzen,
umringt von Boutiquen des sorglosen Lebens,
wo alles Schöne glatt wie ein Aal geworden ist,
sitzt Pater Emanuel und betet für eine Erweiterung
des Glaubens aus dem Geiste der Vernunft.

In den autofreien Seitenstraßen, gefüllt mit
geschminkten Gesichtern und Körpern, die
ausgewählte Stoffe tragen, von göttlicher Phantasie
- ach, diese Farbenpracht! -, erlebt das Auge eine
unglaubliche Vielfalt bunten Lebens im
Halleluja-Rausch verführerischer Schau-Fenster.
Fenster zum Leben?

Du bist noch lange nicht so weit, den Zauber
des Shoppings abzuschütteln. Die lieblichen
und unnützen Gaben für verwöhnte Seelen
verwirren dich. Was ist das für ein Glücksgefühl,
das du empfindest? Und wer gestattet dir
den Eintritt in das Paradies?

Ist das nicht letzten Endes eine Frage der
Vernunft - und nicht des Portemonnaies?

 
 
Aus: Gib acht, mein Herz (Thema: Stadt und Land)


Als unser Land zerstört am Boden lag

Kurz nach dem Krieg, als unser Land zerstört,
verbrannt am Boden lag, was allen unverständlich war,
als schon die Aussichtslosigkeit uns hart bestrafte, und
grenzenlose Armut ganz alltäglich war; die Perspektiven
für den Neubeginn sich erst aus Schutt und Schmutz
befreien mußten, und auch die Herzen meiner Leute alles
andere waren als zuversichtlich, eher tief verstört, betrogen
um das bißchen Überlebenszeit, das sie noch besaßen -

erschienen vor dem Tribunal in Nürnberg die letzten
„Großen“ aus der braunen Horde: Göring, Kesselring und
Ribbentrop; doch Namen, auch die nicht genannten, war’n
noch nie der Rede wert, wenn hinter diesen üble Charaktere
standen, die stolz verteidigten, woran sie glaubten, auch wenn
die eigene, schmutzige Sache längst verloren war.

Wie leicht es war, als Hauptankläger diese Bande, aus dumpfem
Mief der Kaiserzeit entsprungen, zur Rechenschaft zu ziehen;
dazu bedurfte es auch nicht des Spotts, wenn Mister F. den
dicken Göring einen fetten Jungen nannte, den er mit Reden
aus der Bahn geworfen habe, und später triumphierend davon
sprach, den alten Kesselring ziemlich windelweich gedroschen
habe, was in den Ruinen unserer Städte nicht angekommen war.

So brachte sich am Ende jede Seite um die Würde, ein gerechter
Mensch zu sein. Die Frage ist, wer lauter dazu applaudierte.
Und das in Zeiten, als der eine oder andere dieses Mörderpacks,
das schuldig am Verlust der eigenen Kindheit war, für einen
Augenblick noch daran glaubte, ein Mensch zu sein,
bevor der Henker diese ganze Bande holte.

 

 
Aus: Eine Nation ist kein Garten Eden


Liebe Muse der Literatur. Wann immer du, am Anfang oder Ende eines Jahres, das Wasser der Beredsamkeit über eine kaum mehr übersehbare Schar von Menschen träufelst, in der Hoffnung, sie beteiligen zu können an deiner Welt fiktiver Gedanken und Träume, bitte ich dich, einmal zu bedenken, daß die Masse dieser Begünstigten allmählich jene übersteigt, die sich dem Vergnügen des Lesens (noch) widmen. – Vielleicht soltest du, liebe Muse, doch wieder jene auswählen, die du, nach deinem Bilde, zu den Berufenen zählst – und ihnen deine große Kunst mit in die Wiege legst.
Du wirst wissen, wem du diese hohe Gabe anvertrauen kannst. Nach einer harten Lebensprüfung der Betroffenen wird sich zeigen, wer aus dem Herzen schreibt. – Dann macht das Lesen wieder Spaß!

   
Aus: Späte Visionen (2019/2020) - Autor: Gregori Latsch



Jede Seite hat ein Recht auf Solidarität und Trauer
   

Die Asche ist ins Meer gestreut.
Und tausend Leben nimmt das
Wasser auf.

Sie steigen auf, versammeln sich
am Strand, und gehen in ein
anderes Land, das uns die freie
Rede zugesteht.

Vielleicht ist alles noch ein Traum.
Doch irgendwann erfüllt er sich -
und Menschlichkeit wird wieder
unsere Hoffnung sein.

Hommage á Liu Xiaobo - Post mortem
Autor: S.M. Fahrendorf
ERINNERUNG AN HÖLDERLIN

Was wir sind und was uns bleibt –
ein Treibholz, das im Fluß des Lebens
von den Fluten unserer Zeit
weggeschwemmt wird in ein Meer,
dem die Tiefe fehlt,
ohne Wind und Wellen ist.

Welche Stille. Welche Stille.
Aus: Späte Visionen (2019/2020)
© 2017 www.Literatur-Pur.de
www.Cimarron-art.de
kontakt@Literatur-Pur.de Impressum